Brief an Peter Zumthor

Brief an Peter Zumthor

 

Lieber Peter Zumthor,

gerne möchte ich Ihnen heute von unserem geplanten Architekturprojekt erzählen und eine Zusammenarbeit diesbezüglich vorschlagen. Derzeit planen mein Freund und Geschäftspartner Jerry Sohn und ich ein Gebäude für unseren Little Steidl Verlag sowie unsere beiden Familien in der historischen Göttinger Innenstadt zu entwickeln. Die Stadt Göttingen und ihre Geschichte sind für uns von großer persönlicher Bedeutung und mit diesem Bauprojekt möchten wir einen einfühlsamen und bedeutungsvollen architektonischen Beitrag zu ihr und dem zu entwickelnden Kunstquartier leisten.

Unser zweiköpfiges Verlagshaus entstand aus unserer Zusammenarbeit mit Gerhard Steidl und seinem Steidl Verlag heraus. Vor zehn Jahren gründeten wir als Büchermachertrio ein Verlagsprogramm für zeitgenössische Künstlerbücher – das sogenannte Little Steidl Imprint. Zunächst arbeiteten Jerry und ich direkt mit den Künstlern an dem Entwurf und der Gestaltung der Bücher, während sich Gerhard um die Produktion und den Druck kümmerte. Die Druckmaschine sowie der Gedanke, ein Buch von Anfang bis Ende mit meinen eigenen Händen herzustellen, zogen mich schnell in ihren Bann und so fragte ich Gerhard, ob er mir den Offsetdruck beibringen würde. Er teilte nicht nur sein Fachwissen großzügig mit mir, sondern er half uns auch dabei, das Little Steidl Imprint in einen unabhängigen Verlag mit einer eigenen Druckwerkstatt umzuwandeln.

Von Anfang an wussten wir, dass unser Unternehmen in Deutschland ansässig sein sollte, da man hier immer noch Zugang zu guten Materialen und Produktionsfachkenntnis hat. Dennoch stand die Frage der Örtlichkeit zur Diskussion und wir entschlossen uns letztendlich, unseren kleinen Verlag in der direkten Nachbarschaft zum Steidl Verlag anzusiedeln, sodass die erste und zweite Generation dieser Verlags- und Drucktradition Seite an Seite stehen können.

Göttingen ist ein eher unscheinbarer Standort für zeitgenössische Kunst – was im Grunde für die Stadt spricht. Bücher gelangen in alle Ecken der Welt, aber wir glauben, dass sich der tägliche Zauber des Drucks am besten in einer kleinen Stadt wie Göttingen und im direkten Kontakt mit den Fußgängern in der Straße entfaltet. Druckereien befinden sich normalerweise in den Industriegebieten am Stadtrand, doch da wir als ein Künstleratelier fungieren und nicht wie eine herkömmliche Druckerei arbeiten, dürfen wir eine ruhige Ecke in der Altstadt nutzen und die Leute mit unserem Treiben überraschen.

Kürzlich haben wir es geschafft, eine solche ruhige Ecke zu erwerben. Es handelt sich um ein 152 qm großes Grundstück mit zwei Fachwerkhäusern. Die alte Göttinger Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert und ein dazugehöriger Turm befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grundstück. Im Süden öffnet sich die verkehrsberuhigte Düstere Straße zu einem kleinen Platz mit einem Straßencafé. Direkt neben dem Grundstück befindet sich der Steidl Verlag. In derselben Straße gen Norden gibt es noch weitere kleinere Gebäude, die in naher Zukunft das Kunstquartier bilden werden – ein Langzeitprojekt, das Gerhard Steidl mit der Stadt Göttingen plant.

Uns gefällt die Idee eines kulturellen Zentrums, in dem Produktion und Handarbeit zum Alltag gehören und wo Besucher den Kreislauf eines kreativen Prozesses über längere Zeit, also vom Entwurf bis zum fertigen Objekt, mitverfolgen können. Unser Eckhaus soll eine informelle Begegnungsstätte sein, die Interessierten für Fragen offensteht und vielleicht sogar zum Lesen einlädt oder zum Mitnehmen von ein paar Druckbögen zur genaueren Betrachtung.

Unser Traum ist es, dort zu wohnen, wo wir unsere Bücher entwickeln und herstellen – alle Lebensbereiche unter einem einzigen Dach. Die wesentlichen Elemente sollen sein: Wohnraum für zwei Kleinfamilien und Gäste; ein Garten; eine Bücherwerkstatt, die die Gestaltung, die Druckvorstufe sowie die Druckerei vereint; Lagerung für Papier und Bücher und Anlieferungszugang. Aus Prinzip sind die Arbeits- und Wohnbereiche mit einander verbunden, so dass der eine vom anderen nicht zu unterscheiden ist. Wichtiger wäre es, die unterschiedlichen Ebenen der Gemeinsamkeit, der Einsamkeit und der Privatheit sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gebäudes zu bestimmen. Folgende Aktivitäten – einige gemeinsam und einige persönlich – werden zum Alltag im Haus gehören:

Allein oder in aller Ruhe

Das Beobachten von Licht, Schatten und Farben zu den unterschiedlichen Tageszeiten und in den unterschiedlichen Witterungsverhältnissen.

Das Betrachten von Bewegung – sei es bei einem Luftzug oder die Bewegung von Mensch und Maschine: sie alle haben einen gewissen Rhythmus und eine Form, die meine Gedanken beeinflussen und meine Vorstellungskraft anregen.

Das Betrachten und das Arbeiten mit den Grundmaterialien des Büchermachens: Druckfarbe, Lack, Papier, Klebstoff, Faden, Gewebe, Buchbinderpappe. Die Besonderheiten dieser wenigen einfachen Materialien sind nahezu unerschöpflich und endlos die Fülle ihrer Ausdrucksmöglichkeiten in Bezug auf Proportion, Dichtheit, Schwere/Leichtigkeit, Flexibilität/Starrheit, Rauheit/Glätte, Durchlässigkeit, Geruch und Farbe. Jedes Buch basiert auf unseren gesammelten Erfahrungen mit diesen Materialien, ist aber auch gleichzeitig der Beginn einer neuen Erkundung, die das Werk eines jeden Künstlers mit sich bringt. Nicht selten erfordert ein Projekt Hunderte von handgearbeiteten Experimenten und Maquetten, um die wirksamste Form und passendste Unterlage für das Werk eines Künstlers zu finden. Es ist ein einsamer und langsamer Prozess, der unzählige Stunden des Falzens, Schneidens, Nähens und Andruckens beansprucht. Die gemeinsame Arbeit ist hier eher hinderlich. Unsere Maquetten betrachten wir dann im Stehen, an einem Tisch, auf verschiedenen Stühlen, auf einem Sofa oder einer Bank sitzend, in immer anderen Lichtverhältnissen und in unterschiedlich großen Händen. Schließlich werden die Maquetten Teil des gemeinsamen häuslichen und kreativen Raums. Hier lässt sich dann beurteilen, wie sie eine nützliche und ästhetische Präsenz im Leben eines Lesers einnehmen werden.

Das Anhören von Musik, besonders von Bach, Beethoven, Brahms, Prokofjew, dem frühen Ornette Coleman, von John Coltrane und Eric Dolphy: Die Stille – sozusagen die Gegenseite zur Musik – ist genauso wichtig wie die Töne selbst. Musik gibt mir am meisten, wenn sie von Stille umgeben ist, so dass das Nichtvorhandensein eines Klangs seine volle Wirkung entfalten kann. Jeden Abend erinnert mich ein überwältigend schöner Bruch dieser Stille an die Welt da draußen: In der unmittelbaren Umgebung des Verlagshauses befinden sich fünf Kirchen. Jeden Abend um 18 Uhr umschließen sie mit ihrem vereinten Konzert des Glockengeläuts unsere kleine Ecke. Das erinnert mich dann immer an Debussys „La Cathédrale engloutie“. Alleine dafür lohnt es sich, in der Altstadt zu wohnen!

Das Zubereiten der Mahlzeiten – mis en place: Zeit für Geschick, Aufmerksamkeit und das Improvisieren mit Zutaten, die von Woche zu Woche und durch das Jahr hindurch variieren. Zeit auch zum Nachdenken. Für diese angenehme und zutiefst sinnliche Konzentriertheit ziehe ich mich gerne in meine innere Welt zurück. Familie und Freunde sitzen gerne in aller Stille dabei und beobachten. In diesen besonderen Momenten fokussieren mehrere Gemüter gleichzeitig auf Farben, Aromen und Geschmäcker.

Lesen: Mit einem guten Buch vergisst man die Welt um sich herum.

Gemeinschaft und Zusammenkünfte

Alle Aspekte des gemeinsamen Essens und Trinkens: man denkt sich neue Gerichte aus, entdeckt Zutaten und kommt auf Ideen, die man dann mit nach Hause nimmt; das Kochen für Freunde; die Freude auf das köstliche Ergebnis während des Kochens; und natürlich das Genießen der Früchte dieser Träumereien, der Arbeit und des Wartens.

Das gemeinsame Sitzen am Tisch: Unser Familienverband trifft sich stets an einem großen Tisch, nicht etwa auf dem Sofa im Wohnzimmer. Jeder steuert Objekte, neue Arbeiten und Gedanken bei. Der Tisch stellt hierfür für uns den natürlichsten Ort dar. Es vergehen im Normalfall nur wenige Minuten, bis wir gemeinsam Notizen machen und Papier, Stoff oder Zeichenmaterial zuschneiden, was zur Folge hat, dass die Tischplatte nie groß genug ist und die jeweiligen Aktivitäten auf dem Boden fortgesetzt werden.

Der Garten: Zu dem Gefühl zu Hause zu sein, gehört auch ein Garten. Hier arbeiten wir mit der Erde und lebendigen Dingen, hier schauen und riechen wir, hier spielen Kinder und gehen auf Entdeckungsreise. Der Garten ist außerdem das Bindeglied zu einer Handvoll Pflanzenspezialisten aus der Umgebung, mit denen wir uns auf dem Wochenmarkt austauschen. Jede Woche gelangen so neue kleine Wunder in unseren Garten und werden gehegt und gepflegt.

Das Büchermachen: Wir entwickeln und beurteilen Bücher gemeinsam mit den Künstlern und kümmern uns um Inhalt, Gestaltung, Druckvorstufe und Druck unter ein und demselben Dach. Teil unserer Arbeit ist es, einfach nur zusammenzusitzen, gemeinsam zu kochen und zu essen, Geschichten zu erzählen, im Garten zu sein, für neue Entdeckungen nach draußen zu gehen. Unsere Bücher wachsen langsam, manchmal über mehrere Jahre. Je länger die Zeit, desto reicher die Erfahrung und desto sinnlich ausgereifter das Buch. Jeder, der Bücher macht, kennt die nagenden Zweifel im Hinterkopf und muss sich ihnen stellen. Für sie gibt es selten eine sofortige Lösung – sie brauchen ihre Zeit. Und meist lohnt es sich, zu warten und während dessen zu kochen, zu essen, einander zuzuhören und gemeinsam Dinge zu erleben. So hält man – manchmal über Jahre – den Kontakt zueinander und wartet auf die Einsicht, die zur Lösung des Knotens führt.

Das Spielen mit Dingen: Wir leben mit Dingen, die uns im Alltag nützen und weiterbringen. Ihr Dasein ist uns stets bewusst, ganz so, als wären sie Lebewesen, und in der Tat assoziieren wir sie oft stark mit den Familienmitgliedern und Freunden, die sie hergestellt haben. Neben diesem Umgang mit persönlichen Dingen beschäftigt sich Jerry gerne jeden Tag mit dem Zusammenführen von Dingen und Menschen. Dank seiner kenntnisreichen, humorvollen und spielerischen Arbeitsweise hat Jerry in den letzten vier Jahrzehnten viele Künstler, Designer, Architekten und Köche mit seltenen Objekten und Materialien versorgt, was immer wieder etwas Außergewöhnliches und kreativ Anregendes hervorbringt. Er interessiert sich besonders für Herstellungsprozesse und entwickelt nicht selten neue, auf die Bedürfnisse der Künstler zugeschnittene Methoden. Ständig findet Jerry neue Objekte, die er in zahlreiche Projekte auf der ganzen Welt mit einbringt. Was hat das nun mit dem Büchermachen zu tun? So baut Jerry ein unverzichtbares und weitgreifendes Fundament für unsere Arbeit auf, das unsere engen, kreativen Beziehungen mit Künstlern bereichert und eine einzigartige Einsicht in ihre Werke ermöglicht.

Familienalltag: Insgesamt gehören zu unseren beiden Familien drei Kinder. Meine Tochter ist 18 und wird ab Herbst an der Universität studieren. Sie ist mit Little Steidl aufgewachsen und fühlt sich dem Steidl Verlag sehr verbunden. Jerry und seine Frau Eba haben vierjährige Zwillinge, die noch das ganze Leben vor sich haben. Sie dürfen – wie meine Tochter auch – wann immer sie mögen an unseren kreativen Tätigkeiten teilhaben. Ihre zukünftige Erfahrung der Stadt Göttingen wird eng mit dem neuen Haus verwoben sein. Die drei Kinder werden dieses Haus erben mitsamt dem kreativen Innenleben und den Beziehungen, die wir mit der Gemeinschaft in den kommenden Jahren aufbauen werden.

Der Druckprozess mit der Roland 202 Druckmaschine: Dies ist das letzte Kapitel eines Projektes. Die Arbeit bis zur Freigabe des Druckbogens durch den Künstler ist ein gemeinsamer Prozess. Hier müssen die scharfen Blicke und Einsichten der verschiedenen Personen zusammentreffen, um das bestmöglich ästhetische und technische Ergebnis zu erreichen. Unsere zweifarbige Offset-Druckmaschine ist zwar veraltet. Sie bietet weder Computer noch Automatisierungsmöglichkeiten an und steht eher ungeeignet für den heutigen kommerziellen Gebrauch. Doch genau in diesen Eigenschaften liegt für uns ihr Charme. Mit nur zwei Farben pro Druckgang ist jeder Druckbogen ein Bauprozess, den wir akribisch mit Hand und Auge kontrollieren. Alle sind begeistert, so eng am Prozess beteiligt zu sein, und so ist die harte körperliche Anstrengung bei dieser Maschine immer die Mühe wert. Wir drucken etwa sechsmal langsamer als mit einer leistungsfähigeren Druckmaschine, doch so gewinnen wir Zeit für die direkte und aktive Auseinandersetzung mit den Druckmaterialien – was unerlässlich ist für ein ausdrucksstarkes Ergebnis. Wir glauben, man kann wegen dieser Arbeitsweise einen verdichteten menschlichen Charakter in den Drucksachen spüren. In Anbetracht dieses ganzen Aufwandes realisieren wir als Druckobjekte nur solche Projekte, bei denen wir absolut überzeugt sind, dass das Buch die Welt reicher macht.

Das Entlassen eines gemeinsamen Projektes in fremde Hände: Jedes unserer Bücher ist das kreative Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin. Wir dienen ihnen lediglich und helfen bei der Umsetzung des Kunstwerks anhand der Materialien des Büchermachens. Dabei streben wir ein Ergebnis an, das als materiales Objekt für sich selbst spricht und keiner weiteren Erklärung bedarf. Ein solches Buch kann jeder wertschätzen, gleich welchen Alters oder welcher Vorbildung.

Privatsphäre

Jeder von uns braucht seine eigenen, privaten Freiräume. Dazu gehören separate Schlaf- und Badezimmer sowie ein ganz persönlicher Bereich.

Wir schreiben Ihnen, weil uns die sinnliche Erfahrung Ihrer Gebäude zutiefst berührt und wir finden, dass sie die menschlichen Tätigkeiten, die in ihrem Innern und um sie herum stattfinden, herzlich begrüßen und bereichern. Ihre Gebäude erinnern uns an unseren täglichen Zweck als Menschen und als Büchermacher. Wir möchten bei Ihnen ein Gebäude in Auftrag geben, das uns jeden Tag eine Inspiration sein kann, sowohl von innen als auch von der Straße aus. Gerne stehen wir Ihnen als Diener und Fürsprecher zur Verfügung und versprechen Ihnen, dass Ihr Entwurf ganz nach Ihren Vorstellungen realisiert wird.

Mit den allerherzlichsten Grüßen,
Nina Holland
Immigrierte Büchermacherin

27. Mai 2014

Übersetzung aus dem Englischen von Maren Mittentzwey

Tausend Dank an Maren für eine Übersetzung meiner Gedanken und meines Herzens ins Deutsche, die ich selber nicht erreichen konnte.