Brief an die Stadt Göttingen

Brief an die Stadt Göttingen

 

Liebe Göttingerinnen und Göttinger,

Ich bedanke mich für die Gelegenheit, Ihnen den Little Steidl Verlag sowie unsere Zusammenarbeit mit dem Architekten Peter Zumthor in der Düsteren Str. 2 (am Eingang des Kunstquartiers) vorzustellen. Heute, wo der Architekt sein erstes Modell dem Bauausschuss des Göttinger Stadtrats präsentiert, möchte ich Ihnen die Geschichte dieses Projekts erzählen und die Seele und die Ziele unserer Zusammenarbeit erläutern.

Von meinem Standpunkt – als Immigrantin; als Handwerkerin und Büchermacherin; als international tätige Designerin und Kunstverlegerin – sehe ich in dem Kunstquartier und in dieser kleinen Stadt eine hervorragende Möglichkeit, die sich meines Wissens nirgendwo anders auf der Welt ergeben könnte: eine menschenfreundliche Stadt mit einer reichen intellektuellen Geschichte, in die die wichtigsten Künstler der Welt kommen, um zu arbeiten. Sie kommen nach Göttingen, um Kunstwerke zu konzipieren und zu realisieren.

Daraus entsteht im Göttinger Kunstquartier eine Möglichkeit, die selbst die größten Museen und Galerien der Welt nicht anbieten können. Normalerweise ist der Kunstprozess von der Ausstellung des Kunstwerks völlig getrennt. Selten wird ein Kunstwerk vom Künstler und Handwerker zusammen präsentiert, am selben Ort, an dem es hergestellt wird. Ich suche nach dem richtigen Wort, um diese seltene Chance in Göttingen zu beschreiben. Ich würde es einen „Glücksfall“ oder ein „Geschenk des Himmels“ nennen, aber in der Tat entsteht diese außergewöhnliche Situation durch mehr als vierzig Jahre harter Arbeit, Leidenschaft und Kreativität. Mit anderen Worten: Gerhard Steidl, der mit seinem Steidl Verlag das Beste aus der Welt der Kunst nach Göttingen anzieht.

Warum kam ich nach Göttingen? Warum gründete ich in Göttingen meinen eigenen Kunstverlag und nicht z.B. in Paris, Zürich oder Berlin? Warum bringe ich nun den bedeutendsten Architekten der Gegenwart zu einer unscheinbaren Ecke in der Düsteren Straße, um ein „Haus für einen Kunstverlag“ zu bauen? Wieder komme ich zu dem Namen Gerhard Steidl: mein lebenslanges Vorbild, ehemaliger Arbeitspartner und Mentor. Alles, was von Gerhard Steidl kommt, ist für mich mit Göttingen verbunden. So bin ich auch hier, denn ich glaube daran, dass an diesem Ort etwas Beispielloses zwischen den Menschen, der örtlichen Schönheit und der Kunst passieren kann, wenn wir eine Verbindung dafür schaffen.

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Als Gerhard Steidl mit dem Künstler Joseph Beuys 1974 in die Vereinigten Staaten reiste, war ich erst 4 Jahre alt – die Kleinste in einer unkonventionellen Familie von Künstlern, Designern und Musikern aus Los Angeles. Meine Großmutter, die vom Bauhaus beeinflusste Überkünstlerin der Familie und renommierte Kunst- und Kinderbuchkritikerin, stellte sicher, dass alle Kinder und Enkelkinder in der Familie von Geburt an eine tägliche Nahrung von Kunst und Buchkunst genießen durften. Es war zwar nicht typisch, aber ich kann mir keine bessere Kindheit vorstellen als die meinige – mit Farben, Lehm, Pinseln, Büchern und großen Ideen. Gleichzeitig studierten meine älteren Schwestern, und später ich selbst, Musik und Komposition und wir besuchten bereits als Kinder das California Institute of the Arts, ein Musikkonservatorium sowie die wichtigste Kunstschule in Kalifornien. Ich habe viele Stunden meiner frühen Kindheit dort in den Kunstgalerien und Studios verbracht, während meine älteren Schwestern, eine Geigerin und eine Cellistin, in der Orchesterprobe spielten. In diesem Kontext erst haben der Name Joseph Beuys und einige fabelhafte Geschichten über ihn meine vierjährigen Ohren erreicht und meine Vorstellung angeregt. Auf diese Weise kam mein Leben (noch intuitiv und unbewusst) in Kontakt mit einem 23-jährigen Mann aus Göttingen, der hinter Beuys stand und mir noch unbekannt war.

Ich erzähle diese frühe Geschichte als ein Beispiel für etwas, woran ich tief glaube: dass Kunst grundsätzlich magisch ist. Man kann nie wissen, was dabei herauskommen wird oder wem und wie ein Kunstwerk dienen oder unentbehrlich werden wird.

Später im Laufe meiner Kindheit kam ich in Kontakt mit den englischen Ausgaben von Günther Grass. Die Schutzumschläge davon waren wunderschön und bereits sehr früh sind diese Bücher für mich ein Leseziel geworden. Dann, als ich 17 Jahre alt war und von meiner Kindheit Abschied nahm und zur Universität nach New York reiste, habe ich ein neues Buch im Haus meiner Großeltern bemerkt. Ich sprach damals zwar sehr gut Französisch, aber Deutsch war mir noch ganz fremd. Somit hätte ich den Titel dieses Buches nicht lesen oder mich daran später erinnern können. Es war ein Buch von Günther Grass und hatte etwas mit Druck zu tun. Ich fand es sehr lebendig, mehr als schön. Dieses Buch sprach zu mir und erinnerte mich an die besten ästhetischen Erlebnisse meiner Kindheit. Es erinnerte mich daran, wer ich war – wer ich heute noch bin. Ein gutes, körperliches Buch kann so etwas und man wird es nie vergessen.

Knapp ein Jahrzehnt später, nach Studiengängen in Literaturwissenschaften und Jura, als ich, mit meiner kleinen Tochter auf der linken Hüfte, den richtigen Weg zurück in die Inspiration meiner frühen Jahre mit Kunst und Musik suchte, bin ich glücklicherweise diesem Buch von Grass – das etwas mit Druck zu tun hat – im J. Paul Getty Research Institute in Los Angeles nochmals begegnet. Diesmal habe ich den Titel „In Kupfer auf Stein“ aufgeschrieben und auch den Autorennamen „Gerhard Steidl“ begeistert notiert. Zwar hatte ich noch nicht die Fähigkeit dieses Buch auf Deutsch zu lesen, aber im Laufe meiner Arbeit im Getty Research Institute hatte ich etwas Wichtiges entdeckt: Es gab bestimmte Bücher in der Sammlung, die ich sofort erkennen konnte, weil der Druck besser, lebendiger und genauer war als bei anderen Büchern. Diese Bücher haben mich auch sehr persönlich angesprochen und mich mit ihrer Sinnlichkeit bewegt. Sie stammten ausnahmslos von einem Verlag mit dem seltsamen Namen: S-t-e-i-d-l.

Es war eine sehr spannende Entdeckung für mich, dass ein einziger Mann hinter meinen wichtigsten Inspirationsquellen stand – Joseph Beuys, Günther Grass und der Sinnlichkeit des Drucks. Zu diesem Zeitpunkt ging mir auf, dass ich auf der Suche nach meinem eigenen Weg vielleicht den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habe. Der Büchermacher selbst, wenn er begabt ist, ist nicht wahrnehmbar. Man soll ja die Bäume sehen, denn die Bäume sind die Werke, der Inhalt eines Buches. Das Büchermachen ist der Wald. Erst durch die Arbeit von Steidl, wie sie gesammelt vor mir lag, konnte ich mir meine Liebe für den Wald selbst erklären, der so viele unterschiedliche Bäume unterstützen kann. Ich konnte die kreativen Möglichkeiten des Büchermachens nur durch das Zusammenbringen dieser vielfältigen Steidl-Bücher nachvollziehen. Und so fand ich glücklicherweise meinen Weg und raison d‘être.

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Inzwischen habe ich viele Projekte mit international tätigen Künstlern und Architekten realisiert, doch diese sind die Bäume – und ich möchte lieber von dem Wald, d.h. vom Büchermachen, erzählen. Innerhalb von 2 bis 3 Jahren hatte ich ein geeignetes Projekt zur Hand: einen 14-bändigen Catalogue Raisonné über das Werk des amerikanischen Künstlers Glen Seator. 2004 brachte ich es Gerhard Steidl. Wenig später begann unsere Zusammenarbeit.

Der Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit lag von Anfang an auf den technischen Verfahren des Büchermachens. Bei meiner ersten Reise nach Göttingen gab er einen einzigen Hinweis: Wenn man wirklich Lust hat, die Kunst des Büchermachens zu lernen, muss man Deutsch sprechen. Die Fachliteratur existiert nur auf Deutsch, nicht auf Englisch. Wieder in Los Angeles, habe ich sofort einen Deutschlehrer engagiert – rein zufällig ein Student aus Freiburg, der als Doktorand unter Michael Heim (Übersetzer von Günther Grass) studierte. Tatsächlich konnte ich niemanden anderen in ganz Los Angeles finden, der Deutsch sprach.

Kurz danach habe ich zusammen mit Gerhard Steidl und meinem kreativen Partner Jerry Sohn ein Imprint für Künstlerbücher bei Steidl – das sogenannte Little Steidl Imprint – begonnen. Ich habe mit Jerry Sohn die Bücher entwickelt, gestaltet und in Auftrag gegeben. Die Herstellung der Bücher erfolgte immer in Göttingen beim Steidl Verlag. Dadurch hatte sich meine Leidenschaft für die handwerkliche Arbeit des Büchermachens immer weiter vertieft. Gerhard Steidl hat mir regelmäßig unterschiedliche Papiere und Klebstoffe geschickt, weil gute Materialien für Buchbindung in den Vereinigten Staaten nicht erhältlich sind. 2010 hatte ich ein Limit erreicht und konnte meine Arbeit nicht mehr in Los Angeles weiterentwickeln.

Der Wendepunkt kam am 15. August 2010. Gerhard Steidl und ich entschieden, dass ich nach Göttingen umziehen sollte. Das Ziel wurde von Steidl klar festgelegt: „Komm und lerne alles. Lerne Druck, so dass du deine eigenen Bücher von Anfang bis Ende selber herstellen kannst. Dann gehst du! Du musst deinen eigenen Verlag errichten. Das ist mein Traum. Es wäre besser zwei Steidls in der Welt zu haben als nur einen.“

Januar 2011 bin ich nach Göttingen umgezogen, um Offsetdruck in der Steidl Druckerei zu lernen. Bei meiner Arbeit ist Druck kein kommerzieller Prozess, sondern eine Kunstform. Meines Wissens wird diese Art von Offsetdruck nur bei Steidl praktiziert und kann zudem auch nur bei Steidl gelernt werden.

2012 haben mein Partner Jerry Sohn, noch in Los Angeles, und ich den Little Steidl Verlag gegründet. Unser Verlag ist das erste Kind des Steidl Verlags und wir beginnen jetzt mit unserem eigenen Abenteuer in der Welt des Drucks. Gerhard Steidl wird alles sehen, weil wir zwar aus dem Familienhaus auszogen sind, aber nicht so weit weg wanderten. 2015 haben wir das Haus in der Düsteren Str./Ecke Turmstr. erworben und den Meisterarchitekten Peter Zumthor damit beauftragt, ein Gebäude für den Little Steidl Verlag sowie für unsere zwei Familien zu bauen. Das Projekt wurde von ihm „Haus für einen Kunstverlag“ genannt.

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Gerne möchte ich Ihnen den Geist dieses Architekturprojekts erläutern:

Wir schätzen die historische Innenstadt sehr und sind ganz und gar für ihren Erhalt. Wir haben mit Bewohnern der Innenstadt gesprochen und verstehen die Sorgen vieler vor Neubauentwicklungen. Wir teilen ihren Groll, wenn ein wertvolles historisches Gebäude einem unpassenden kommerziellen Bau geopfert wird, der nur wenig ästhetischen oder kulturellen Wert für die Gemeinschaft bringt. Das ist kein fairer Tausch.

Wir stehen auch für die Anerkennung moderner Meister. Jede Gemeinschaft braucht nicht nur die großartigen Werke der Vergangenheit, sondern muss auch daran teilhaben, große kulturelle Werke unserer Zeit zu erschaffen und sich daran erfreuen, dazu gehört auch Architektur. Wir denken daher, dass es unser bester Beitrag für unsere neue Gemeinschaft wäre, Vergangenheit und Gegenwart zusammenzubringen, nebeneinander, in Harmonie.

Ein 300 Jahre altes Gebäude erinnert uns nicht nur an unsere Pflicht, seine ursprüngliche Baustruktur zu erhalten, sondern sollte uns auch dazu anregen, in der heutigen Zeit Bauten zu errichten, die auch für die Generationen in den kommenden 300 Jahren bedeutungsvoll sein werden. Wir möchten mit Peter Zumthor ein Haus errichten, das als ein neuer Standard in der Stadt fungieren kann, d.h. ein modernes architektonisches Werk, das – liebevoll zwischen seine historischen Nachbarn gesetzt – selbst würdig des Denkmalschutzes steht.

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Heute ist die Düstere Straße 2 eine der weniger attraktiven und schlecht erhaltenen Ecken in Göttingen. Sie könnte aber eine der wunderschönsten und auffälligsten Ecken in der Stadt sein. Ideal sichtbar von allen Zugängen befindet sich das Grundstück zwischen einem Außencafé nach Süden und dem Steidl Verlag und dem Kunstquartier nach Norden. Das Haus fungiert als ein Orientierungspunkt, wenn man aus Südosten via Hospitalstraße das Kunstquartier erreicht. Entlang dieser Strecke erhebt sich die südliche Fassade und präsentiert sich dem Betrachter in weitem Anblick, deutlich sichtbar hinter der alten Stadtmauer. Von der Außenfläche des Cafés stellt das Gebäude den ersten Blick ins Kunstquartier dar. Die Düstere Straße 2 spielt also eine wesentliche architektonische Rolle am Eingang des Kunstquartiers.

Auf dieser Ecke ist das Licht besonders schön. Die freigelegte alte Stadtmauer und der Mauerturm sind eindrucksvoll. Die fußgängerfreundlichen Außenflächen bieten eine angenehme Atmosphäre zum Ausruhen und Betrachten sowie zum Dialog zwischen den Menschen auf der Straße an. Das richtige Gebäude könnte die besten Eigenschaften des Ortes beleben. Nach Berücksichtigung all der Aspekte konnten wir nur einem einzigen Architekten die empfindliche Schönheit und den bescheidenen, einladenden Charakter der Ecke anvertrauen: Peter Zumthor. Wir haben diese Ecke für ihn und ihn für diese Ecke ausgewählt.

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Zumthors Arbeiten sprechen für sich selbst. Sie sind spezifische, sinnliche Werke, die eine leise, warme und menschenfreundliche Präsenz in der Gemeinde, wo sie stehen, beitragen.

Zumthors tiefes Interesse für das Werk von Joseph Beuys passt ideal zur Geschichte der Düsteren Straße, wo Beuys in Zusammenarbeit mit Steidl seine Multiples gemacht hat und wo Steidl ein Verlagsprogramm führt, das die ethischen, ästhetischen und sozialen Werte, die er mit Beuys geteilt hat, verkörpert.

Wir schätzen die unmittelbare Sinnlichkeit der Werke Zumthors, eine Eigenschaft, die als moralisches Gebot sowohl in der Arbeit von Steidl als auch von Little Steidl gilt.

Bis heute wohnt und arbeitet Zumthor im kleinen Dorf Haldenstein und wir würdigen, wie er ein außergewöhnlich einfühlsames Verständnis dafür aufbringt, Bescheidenheit in dieser leisen, historischen Gemeinschaft zu erhalten. Wir streben danach, eine solche Präsenz auch auf unserer Ecke der Göttinger Innenstadt zu haben.

Wir erfreuen uns an der organischen Beziehung der Gebäude Zumthors mit der Landschaft und dem umwandelnden Licht durch die Jahreszeiten. Dieser jährliche Kreislauf ist in Göttingen besonders spektakulär.

Wir würdigen auch, wie die Gebäude Zumthors die Menschen einladen und ermutigen, in bewegende, persönliche Beziehungen mit Kunst, der Landschaft und dem Erlebnis der Kontemplation zu treten.

Als Auftraggeber fragen wir uns auch gerne, was wir dem Architekten anbieten können. Wir bieten ihm unbedingt eine Gelegenheit, sich in seiner Arbeit weiter zu entwickeln und seine reifsten Einsichten in einem originellen Werk zu realisieren. Dieses Hauptprinzip dient als Basis für alle kreativen Projekte bei Little Steidl und ist auch der geistige Antrieb dieses architektonischen Auftrags.

Wir sind am Anfang eines langsamen und langen kreativen Prozesses, in dem nichts standardisiert ist. Zumthor hat die präzise, skulpturale Form des Hauses im Zusammenhang mit den historischen Nachbargebäuden in einem einzigartigen aus Ton gebauten Stadtmodell dargestellt. Das Haus soll im Massivbau aus historischen Ziegeln gebaut werden. Die Wände sollen Stück für Stück die deutsche Handwerkstradition der Kohle- und Torfbrand Klinkerherstellung aus dem frühen 20. Jahrhundert bis heute zeigen. Das Haus soll von einem spezialisierten Team von Meisterhandwerkern errichtet werden. So viel wissen wir bis heute. Alles weitere werden wir noch entdecken und entwickeln.

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Wenn Sie so weit über das Projekt gelesen haben, bedanken wir uns sehr! Wir hoffen, Sie werden auch die Gelegenheit wahrnehmen, sich das Modell anzusehen. Neben der Präsentation vor dem Bauausschuss am 10. März um 15:00 Uhr in der Paulinerkirche ist ebenfalls eine Ausstellung des Modells im Grass Haus in der Düsteren Straße 6 am 12. und 19. März geplant. Wir freuen uns, Sie dort begrüßen zu dürfen.

Mit freundlichen Grüßen,

Nina Holland
Geschäftsführerin
Little Steidl Verlag

Göttingen, den 10. März 2016